Christian Wetz: Dürfen evangelische Christ*innen Weihrauch verwenden?

Tue, 06 May 2025 19:14:37 +0000 von Bruder Franziskus

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An Weihnachten habe ich meiner Frau etwas sehr Katholisches geschenkt: Weihrauch. Dazu ein Gefäß, in dem der Weihrauch verbrannt werden kann und 20 Kohlestücke, die man vorher entzündet und auf die man, wenn die Kohle dann glüht, den Weihrauch legt. Ich habe das dann gleich auf Facebook gepostet, und Bruder Franziskus fragte daraufhin, ob ich nicht einmal in seiner Gemeinde über Weihrauch predigen wolle. Natürlich wollte ich!

Weihrauch, das ist zunächst einmal ein Baum mit dem botanischen Namen Boswellia sacra und andere Arten der Gattung Boswellia. An diesem Baum wird die Rinde eingeritzt, so dass sein Harz herausquillt. Wenn das Harz am Baum getrocknet ist, kann es abgeschabt werden. Die dabei entstehenden Bröckchen kommen dann als Weihrauch in den Handel. Und natürlich wird auch der Rauch, der beim Verbrennen des Harzes entsteht, „Weihrauch“ genannt. In der Antike war Weihrauch (also das Harz) ein begehrtes Handelsgut; es war wertvoll, und man musste viel Geld dafür ausgeben. So konnte man es auch einem neugeborenen König schenken, ohne dass es schäbig erschienen wäre. Die Weisen aus dem Morgenland bringen ja dem neugeborenen König – Jesus – neben Gold und Myrrhe auch Weihrauch als Geschenk dar.

In der Antike wurde im Tempel zu Jerusalem Weihrauch als Opfergabe an Gott verbrannt. Der Rauch des Weihrauchs steigt nach oben, und von diesem Nach-oben-Steigen rührt sogar das hebräische Wort für „opfern“ oder „ein Opfer darbringen“ her: נשׂא (naśa). נשׂא Bedeutet „emporsteigen“, also zum Beispiel eine Treppe emporsteigen. Auch Rauch, der emporsteigt, wird mit נשׂא bezeichnet.

Ich bin auf Facebook in einer Reihe von Pfarrergruppen. Man bespricht dort Fragen und Probleme aus dem Gemeindealltag oder auch einmal allgemein-theologische Fragen. Eine Frage, die einem im Gemeindealltag immer mal wieder begegnet, ist die folgende: Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin wird gebeten, dass er einen bestimmten Raum im Haus neu einweiht, so nenne ich es einmal. In diesem Raum hat sich etwas ereignet, was die Bewohner sehr belastet – ein Einbruch (also ein Fremder war in dem Raum), ein tödlicher Unfall, ein Selbstmord oder dergleichen. Sie trauen sich kaum, diesen Raum zu betreten. Darin wieder ganz normal zu wohnen, ist ihnen unmöglich. Wenn ein solcherart angefragter Pfarrer auf Facebook seinen Fall schildert und dann die Frage stellt: „Was mach’ ich denn jetzt?“, kommen immer Vorschläge wie Gebet, rituelle Handlungen usw. Eine Sache aber kommt immer in dieser evangelischen Pfarrergruppe: Nimm Weihrauch und räuchere den Raum ordentlich aus!

Esoterisch angehauchte Menschen würden sagen, dass durch den Weihrauch die schlechten Energien in dem Raum verscheucht werden oder gar die bösen Geister. Wir als der Vernunft verpflichtete Protestanten müssen die Notwendigkeit und Wirksamkeit des Weihrauchs aber wohl anders erklären.

Der sehr intensive Geruch des Weihrauchs setzt ganz tief in unserem Bewusstsein an, also eigentlich schon im Unterbewusstsein oder im noch tiefer: im untersten Bewusstsein. Die allererste, ursprüngliche Art, unsere Umgebung wahrzunehmen und darauf zu reagieren, ist die durch die Wahrnehmung von chemischen Veränderungen, und das heißt von Gerüchen. Unsere sehr frühen Vorfahren, die nur aus ein paar Zellen bestanden und die im Ur-Ozean lebten, die konnten riechen. Sie konnten aber auch nur riechen. Sie konnte nicht sehen und sie konnten nicht hören. Die Ursprünglichkeit, das Archaische Ihres Geruchssinns erfahren Sie selbst immer einmal wieder. Wenn Ihnen ein bestimmter Geruch in die Nase steigt, wissen Sie sofort, wo Sie ihn zum ersten Mal gerochen haben, und Sie verbinden das Gefühl dieses ersten Mals damit. Für mich zum Beispiel ist der Geruch von Kuhmist sehr positiv besetzt. Er bedeutet „Urlaub in den Alpen“. Die Erinnerungen daran sind in einer sehr tiefen Schicht meines Gedächtnisses abgelegt, und ich kann mich gar nicht dagegen wehren, dass ich mich beim Geruch von Kuhmist wohlfühle.

Wenn nun jemand in einem Unglücksraum, an den sehr negative Erinnerungen hängen, Weihrauch verbrennt und die Bewohner des Hauses in dem Raum den Weihrauch riechen, dann wird die Erinnerung an das Schreckliche in dem Raum aus neuronaler Ebene sozusagen überlagert oder umgepolt. Der Weihrauch wirkt ein bisschen wie ein Tintenkiller.

Nun mögen wir Protestanten aber keinen Weihrauch. So tief unten im Bewusstsein bewegen wir uns nicht. Wir arbeiten bevorzugt mit dem stammesgeschichtlich jüngsten Sinnesorgan, dem Ohr. Wir arbeiten mit dem Wort.

Aber dürfen wir trotzdem auch einmal Weihrauch verwenden? Um einen Raum neu einzuweihen, um ihn von „bösen Geistern“ zu befreien? Wenigstens als Geschenk zu Weihnachten? Oder vielleicht sogar im evangelischen Gottesdienst?

Eine gute Gelegenheit, Ihnen das heutige Predigtwort noch einmal vorzulesen. Es steht im Alten Testament im Buch Prediger, auch „Kohelet“ genannt. Das Buch Prediger ist eine Sammlung von Weisheitssprüchen, also von kurzen, knackigen Aussagen über Gott, die Welt und den Menschen. Ich lese Pred 7,15–18 nach der katholischen Einheitsübersetzung: „In meinen Tagen voll Windhauch habe ich beides beobachtet: Es kommt vor, dass ein gesetzestreuer Mensch trotz seiner Gesetzestreue elend endet, und es kommt vor, dass einer, der sich nicht um das Gesetz kümmert, trotz seines bösen Tuns ein langes Leben hat. Halte dich nicht zu streng an das Gesetz und sei nicht maßlos im Erwerb von Wissen! Warum solltest du dich selbst ruinieren? Entfern dich nicht zu weit vom Gesetz und verharre nicht im Unwissen: Warum solltest du vor der Zeit sterben? Es ist am besten, wenn du an dem einen festhältst, aber auch das andere nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.

Natürlich dürfen wir als Protestanten Weihrauch verwenden. Wir sollen es sogar, wenn wir damit Gutes bewirken, so wie der Pfarrer, der einen tabu gewordenen Raum wieder bewohnbar macht. Der Verfasser des Buches Prediger hatte da eine ganz realistische Auffassung vom Leben. Die Ethik ist nicht zu radikal. Deswegen ist es den meisten Lesern auch so sympathisch, weil sie sich dort am ehesten wiederfinden. Man ist von Gott ins Leben geworfen und darf es sich hier nett machen: „Halte dich nicht zu streng an das Gesetz und sei nicht maßlos im Erwerb von Wissen! Warum solltest du dich selbst ruinieren? Entfern dich [aber auch] nicht zu weit vom Gesetz und verharre nicht im Unwissen: Warum solltest du vor der Zeit sterben?

Im Neuen Testament gibt es ähnliche Aussagen. Paulus zum Beispiel ist da im 1. Korintherbrief sehr locker. Im achten Kapitel geht es um die Frage, ob Christen Götzenopferfleisch essen dürfen. In der Antike wurde Fleisch vor dem Essen in der Regel einer Gottheit geopfert, um es dann doch selbst zu essen. Das nennt man dann „Götzenopferfleisch“. Für Paulus ist klar: Es gibt keinen Gott außer dem einen Gott, der sich dem Volk Israel geoffenbart hat. Deswegen kann Fleisch auch nicht anderen Göttern geopfert werden, sondern eigentlich nur „Nichtsen“. Andere Götter sind „Nichtse“. Und daher ist der Verzehr dieses Fleisches auch etwas, was Christen ohne Weiteres tun dürfen, wenn sie vom netten heidnischen Nachbarn zum Grillen eingeladen werden. Wir sind nämlich „frei in Christo“. Jesus Christus hat uns freigemacht von solchen Zwängen, er hat uns freigemacht, das zu tun, was wir mit unserem Gewissen vor Gott vereinbaren können. Andererseits aber, so der Apostel im 1. Korintherbrief, mag es Christen geben, die damit trotz aller theologischen Klarheit ein Problem haben. In Gegenwart solcher Christen ist es daher angemessen, selbst auf den Verzehr von Götzenopferfleisch zu verzichten, um die Brüder und Schwestern nicht in Verlegenheit zu bringen. Paulus schreibt treffend: „Seht aber zu, dass diese eure Freiheit für die Schwachen nicht zum Anstoß wird!“ (1 Kor 8,9). Also: Wenn ihr wisst, dass euer Tun, das ihr guten Gewissen verrichten könnt, eure Mitchristen in Verlegenheit bringt, dann verzichtet auf das Tun. Auch das ist Freiheit.

Ich finde das eine schöne Grundhaltung, die da die gesamte Heilige Schrift durchzieht und die sie uns zumutet: Es ist eine Grundhaltung, die die eigene Freiheit betont. Diese Freiheit findet aber ihre Grenzen im eigenen Gewissen vor Gott, denn, so heißt es im Buch Prediger: „Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten“ (Pred 7,18).

Der Text ist die Predigt von Dr. Christian Wetz, Oldenburg, am 16. Februar 2025 im Sonntagsgottesdienst der Ev.-luth. Kirchengemeinde Gödens.
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